Israel ist ein kleines Land und trachtet, sein Gebiet auf Kosten der Palästinenser zu erweitern. Das Palästinensische Autonomiegebiet ist ein winziges Land hinter einem hohen Zaun und ohne echte Möglichkeiten auf Vergrößerung. Deswegen ruft jeder weitere Angriff auf palästinensisches Siedlungsgebiet Widerstand hervor. Die gegenwärtigen Konflikte sind ein logisches Nebenprodukt der Friedensverhandlungen.
Fährt man vom israelischen Erez-Übergang in den Gaza-Streifen hinein, so stößt man nach zwei Kilometern auf ein Schild an der Gabelung der Hauptstraße: „Gaza Airport“: der neue Stolz des Landes liegt ganz im Süden des Gaza Streifens. Die Pfeile des Schildes weisen auf beide Straßen der Gabelung, denn aufgrund der Größe des Gaza Streifens ist es belanglos, welchen der beiden Wege man wählt.
Das Schild ruft allen BesucherInnen und HeimkehrerInnen auf Anhieb die deprimierende Realität des Gaza-Streifens ins Gedächtnis: eingesperrt und isoliert auf 365 km˛ (etwa 4/5 der Fläche Wiens), an drei Seiten umgeben von elektrischem Zaun und israelischen Wachtürmen, an einer Seite das Meer – ein paar Seemeilen Freiheit – dahinter israelische Patrouillenboote. Palästinenser bezeichnen den Gaza-Streifen als ein großes Gefängnis und für viele ist er das auch.
Spricht man mit jungen PalästinenserInnen unter 30, so hört man immer wieder sie hätten den Streifen Zeit ihres Lebens nicht verlassen. Während der Intifada – dem palästinensischen Aufstand von 1988 bis 1993 – war es oftmals lebensgefährlich, das Haus oder das Flüchtlingscamp zu verlassen, und Anfang der 90er wurde das System der Magnetkarten und Genehmigungen eingeführt, das es nur noch wenigen tausend Palästinensern erlaubt, den Streifen zu verlassen. Selbst Ausnahmegenehmigungen für einen Spitalsbesuch im palästinensischen Ostjerusalem oder für Verwandtenbesuche im Westjordanland sind kaum zu bekommen. Für die meisten Palästinenser aus Gaza bleibt auch der Traum, in der Al-Aqsa Moschee in Jerusalem – der drittheiligsten Stätte des Islam – zu beten, unerfüllbar. Die West Bank, Jerusalem und die Welt hinter dem elektrischen Zaun kennen die älteren EinwohnerInnen nur noch aus der Vergangenheit, die Jüngeren bestenfalls aus dem Fernsehen.
Inputs von draußen, moderne gesellschaftspolitische Strömungen und Trends bleiben ausgesperrt. So ist es wenig verwunderlich, dass konservative Kräfte die Oberhand behalten. Selbst gesellschaftliche, in Zeiten der Intifada errungene Freiheiten konnten nicht beibehalten werden. Die anhaltende Abriegelung der besetzten Gebiete von Israel und voneinander vertieft auch permanent die ohnehin breite Kluft zwischen West Bank und Gaza. Nicht selten werden PalästinenserInnen aus dem Gaza Streifen von ihren Landsleuten in der West Bank als rückständig angesehen und mit Misstrauen bedacht.
Wählt man an der oben erwähnten Gabelung die östliche Hauptstraße so gelangt man nach Jabaliya. Das ist das bevölkerungsreichste palästinensische Flüchtlingscamp überhaupt, wo rund 90.000 Flüchtlinge mit ihren Nachkommen auf engstem Raum leben. Nicht selten teilen sich zehn Personen den einzigen Raum einer Betonunterkunft. Die Menschen wurden im Zuge des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1948/1949 vertrieben oder flüchteten. Von Tel el-Zatar, einem Hügel am Rande des Camps, können sie auf ihre alten Felder, Orangenhaine und Ländereien nur wenige Kilometer hinter dem elektrischen Zaun blicken. Die Flüchtlinge in Jabaliya stammen vor allem aus al-Majdal, dem heutigen Ashkelon, und Umgebung. Die Besitzurkunden für ihre Ländereien haben sie bis heute aufbewahrt, viele sogar die alten Schlüssel für ihre Häuser. Die meisten wurden von Israel abgerissen, viele aber stehen noch und werden nun von Israelis bewohnt. Manche dieser Flüchtlinge, die mit viel Glück oder guten Beziehungen eine Arbeitsgenehmigung für Israel ergattern konnten, passieren täglich die Felder ihrer Eltern und Großeltern. Sie beneiden jene Flüchtlinge in Jordanien, Syrien und im Libanon, die nicht jeden Tag ihr verlorenes Land sehen müssen.
Über 78% der fast 1,2 Millionen EinwohnerInnen des Gaza Streifens sind Flüchtlinge oder deren Nachkommen. Noch heute – 52 Jahre nach Flucht und Vertreibung – leben ca. 450.000 Flüchtlinge in den acht Camps des Gaza Streifens. Das kleinste beherbergt mehr Vertriebene als das größte in der West Bank.
Einzige Erwerbsmöglichkeit bleibt oftmals nur eine schlecht bezahlte Anstellung im aufgeblähten Verwaltungs- und Polizeiapparat der Palästinensischen Autonomiebehörde PA, deren Budget von den Gehältern verschlungen wird. Hätte die PA jedoch nicht den überfüllten Arbeitsmarkt entlastet, wäre der Friedensprozess schon lange kollabiert, denn Arbeitslosigkeit und Armut finden schnell eine politische Ausdrucksform.
Von Anbeginn des „Oslo Prozesses“ (der „Friedensprozess“ startete 1993 mit der Unterzeichnung der in Oslo ausgehandelten Abkommen) war es auch die Strategie der Geberländer, mit greifbarer wirtschaftlicher Unterstützung die Lebenssituation der PalästinenserInnen in den besetzten Gebieten zu verbessern, um somit den „Friedensprozess“ zu unterstützen. Diese geballten Entwicklungsmilliarden konnten aber nicht viel mehr erreichen, als den wirtschaftlichen Abschwung, der mit der Unterzeichnung des Osloer Abkommens einsetzte, abzufedern und ein Scheitern der israelisch-palästinensischen Verhandlungen von Anbeginn an zu verhindern. Grund für diesen Abschwung war die ab 1993 einsetzende einseitige israelische Absperrungspolitik gegenüber den palästinensischen Gebieten und dem Gaza-Streifen im Besonderen.
Umgeben von Stacheldraht und Militär besiedeln rund 6500 mit ideologischem Eifer ausgestattete Israelis nach wie vor über 20% des Gaza Streifens. Die fast 1,2 Millionen PalästinenserInnen leben auf den verbleibenden 80% des Streifens dicht aneinander gepfercht. Das macht den Gaza-Streifen zu einem der dichtest besiedelten Gebieten der Erde. Unter der palästinensischen Bevölkerung herrscht nach sieben Jahren breiter Konsens darüber, dass die Oslo-Abkommen mehr Nachteile als Vorteile, mehr Verschlechterungen des alltäglichen Lebens als Verbesserungen gebracht haben. Die Abkommen werden als Fortführung der Okkupation mit anderen Mitteln gesehen, die Verhandlungen als Spiegel der realen Machtverhältnisse zwischen Israelis und Palästinensern.
Einige der israelischen Siedlungen liegen nur ca. zwei Kilometervon Jabaliya entfernt am Meer. Eine andere Siedlung – Netzarim – liegt nahe an der östlichen Hauptstraße etwa sieben km südlich von Jabaliya. Sie ist von Militärposten umringt und war schon in der Vergangenheit Schauplatz blutiger Zusammenstöße zwischen palästinensischen Demonstranten und israelischem Militär. Auch in den jüngsten Kämpfen spielte Netzarim die zentrale Rolle im Gaza Streifen. Hier entlud sich der Frust Tausender PalästinenserInnen über die andauernde Okkupation, die fortschreitende israelische Siedlungspolitik und das Fehlen jeglicher Zukunftsperspektive, persönlichen Spielraums und von Bewegungsfreiheit.
Bei Netzarim entstanden auch jene Fernsehbilder vom Tod des zwölfjährigen Mohammad al-Duri, die zeigten wie er an seinen Vater gedrückt von israelischem Gewehrfeuer getötet wurde. Diese Bilder und der Tod so vieler anderer palästinensischer Kinder und Jugendlicher machen es für das palästinensische Volk und seine Führung beinahe unmöglich, zum Verhandlungstisch zurückzukehren und die Oslo-Abkommen weiterhin als Verhandlunsgrundlage zu akzeptieren. Ähnlich erging es vielen Israelis als zwei Soldaten in Ramallah in der West Bank gelyncht wurden.
Die ursprüngliche Euphorie über den „Friedensprozess“ ist schon vor Jahren in Enttäuschung umgeschlagen, doch heute glaubt in Gaza kaum mehr jemand daran, dass palästinensische Minimalforderungen mit israelischen Sicherheitsbedürfnissen im Rahmen der bilateralen Verhandlungen unter Schirmherrschaft der USA in Einklang gebracht werden können.
Gerhard Pulfer ist Mitarbeiter von UNDP im Gaza Streifen.
Der Artikel spiegelt die persönliche Meinung des Autors wieder, nicht jedoch die Position von UNDP.
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